Beinlängendifferenz Kapitel 1:

Auch kleine Unterschiede können eine große Wirkung haben

Die Symptome und Beschwerden, die mit einer unterschiedlichen Beinlänge assoziiert werden sind vielfältig:

Rückenschmerzen, Nackenschmerzen, Hüft-, Knieschmerzen, Fußschmerzen, Muskelverspannungen im Bereich der Beine oder der Wirbelsäule, Kopfschmerzen, Kieferschmerzen, Fehlhaltungen des Oberkörpers und des Beckens, belastungsabhängige Schmerzen der Wirbelsäule oder der Beine bei längerem Stehen, Gehen oder Laufen. Schmerzen an den Sehnen und Muskeln der Hüfte, des Kniegelenkes, des Fußes und verschiedene andere.

Große Unterschiede (>2cm) können nachweislich zu einer Fehlhaltung der Wirbelsäule führen, erhebliche Beschwerden verursachen und werden in der Regel schon früh der Kindheit entdeckt und behandelt. Bei Erwachsenen wird ab einer Beinlängendifferenz von > 3 cm in der Regel eine Operation empfohlen, bei Kindern im Wachstumsalter kann schon ab einem Unterschied von > 1 cm eine Behandlung z.B. der Wachstumsfugen indiziert sein. Bei geringen Unterschieden (< 2 cm) ist eine eindeutige Zuordnung oder eine direkte Verbindung zu bestimmten Schmerzen, insbesondere chronischen Rückenschmerzen, wissenschaftlich nicht erwiesen.

Geringe Beinlängendifferenzen sind nicht so offensichtlich und werden oft vom Patienten nicht wahrgenommen. Die Feststellung erfolgt dann zumeist erst im Rahmen einer Untersuchung aufgrund orthopädischer Probleme.

Es ist davon auszugehen dass sich in diesen Fällen die Beschwerden erst langsam über chronische Fehlbelastungen und sich daraus ergebende muskuläre Dysbalancen bemerkbar machen. Für die Untersuchung und Behandlung von Patienten mit Überlastungsschmerzen, rezidivierenden oder chronischen  Beschwerden sind deshalb die geringen Beinlängenunterschiede möglicherweise von großer Bedeutung.

Die Methoden zur Feststellung einer gering unterschiedlichen Beinlänge sind unter Therapeuten und Ärzten äußerst variabel. Darüberhinaus bestehen verschiedene Begrifflichkeiten die unterschiedliche Mess- bzw. Ausgangssituationen berücksichtigen (Z.B. anatomische oder reele Beinlängendifferenz, funktionelle Beinlängendifferenzen, variable Beinlängendifferenz).

Die Untersuchung kann von einem schnellen Blick auf das Becken bis zu einer differenzierten Untersuchung mit verschiedenen technischen Methoden, von Röntgen bis Kernspintomographie, variieren. Auch die Bewertung ist bei geringen Beinlängenunterschieden primär von der individuellen Ausbildung und Einschätzung des Behandlers abhängig. Die Interpretationen können dabei von  „ das hat doch jeder“  bis „das muß unbedingt behandelt werden“ reichen.
Ebenso unterschiedlich und von der Spezialisierung des Untersuchers abhängig können die Therapievorschläge sein: Chirotherapie, spezielle Einlagen, Fersenerhöhung, Krankengymnastik, Dehnungstechniken, Training, Osteopathie oder Operation u.v.a..

Ohne weiteres kann der gleiche Mensch (oder Patient) dabei von verschiedenen Therapeuten ganz unterschiedliche Empfehlungen erhalten. Nach unseren Erfahrungen sogar so widersprüchlich, dass das kürzere Bein von einem Therapeut auf der einen und von einem anderen Therapeut auf der gegenüberliegende Seite festgestellt wurde. Anderseits können auch verschiedene Patienten trotz unterschiedlicher Befunde und Beschwerden von einem Therapeut immer eine ähnliche Therapieempfehlung (z.B. ISG-Behandlung oder Osteopathie) erhalten.

Entscheidende Frage:
Worauf sollte bei einer unterschiedlichen Beinlänge geachtet werden?

Grundsätzlich sollte bei jedem Verdacht auf eine Beinlängendifferenz eine standardisierte Untersuchung erfolgen die auch die relevanten biomechanischen Parameter misst. Eine Schätzung, Messung durch Brettchenunterlage, Beckenwaage oder nach Dauemmaß sind mit einem Messfehler von bis zu 2 cm verbunden und nicht mehr zu empfehlen. Bei einer Untersuchung sollte die Beinlänge und das Becken nicht nur im Liegen sondern auch im Stehen mit gestreckten Hüft- und Kniegelenken, im Gehen und im Einbeinstand geprüft werden. Oft ist eine Haltungsanalyse, gelegentlich eine Ultraschallvermessung der Beinlänge oder eine Röntgenaufnahme der Lendenwirbelsäule zur Beurteilung einer Skoliose (hier können auch alte Röntgenbilder genutzt werden) nötig.

Eine gering unterschiedliche Beinlänge ist per se keine Krankheit oder Symptomatik das unweigerlich zu einer Fehlbelastung oder Schmerzsymptomatik führen muss. Die individuelle Bedeutung der geringen Beinlängendifferenz ergibt sich, wie auch bei anderen Fehlhaltungen, erst im Zusammenhang bzw. in der Auswirkung auf die umgebenden Strukturen. Die vorrangig zu klärende Frage bei geringen Beinlängendifferenzen ist deshalb die der Auswirkung der Seitendifferenz auf die Körperstatik. Entsteht eine ungünstige Beckenhaltung? Verändert sich der Horizontalstand des Kreuzbeinplateau? Entsteht eine Skoliose? Sind unterschiedliche Belastungen der Hüftgelenke , der Muskeln und Sehnen feststellbar? Besteht eine Auswirkung auf die Haltung der Wirbelsäule oder den Oberkörper? Sind die gegebenenfalls vorhandenen Beschwerden durch die geringe Beinlängendifferenz biomechanisch oder myofaszial erklärbar?

Nach unserer Erfahrung ist für die Entwicklung einer nachhaltigen Therapiestrategie die Beurteilung der Wirbelsäulenstatik, insbesondere die der Wirbelsäulenbasis, des Kreuzbeinplateaus, vorrangig. Entsteht durch die unterschiedliche Beinlänge eine Schiefstellung des Kreuzbein kann sich eine seitliche Ausbuchtung der Wirbelsäule (Skoliose) entwickeln. Dies führt zu einer asymmetrischen Belastung insbesondere der Bandscheiben und der kleinen unteren Wirbelgelenke. Ähnlich wie bei einer verstellten Spur am Auto ist davon ausgehend über die jahrelange Fehlbelastung eine einseitige und vorzeitige Abnutzung der Bandscheiben oder der Wirbelgelenke möglich.

Weitere Spätfolgen können muskuläre Dysbalancen oder ein Bandscheibenvorfall sein. Bei größeren Unterschieden kann die Fehlhaltung des Beckens zu einer Skoliose der Halswirbelsäule führen und Beschwerden im Nacken oder dem Kiefergelenk auslösen.

Fazit
Selbst kleinere Unterschiede der Beinlänge (1-2 cm) können langfristig zu bedeutsamen Abnutzungen und gravierenden Folgen führen. Es lohnt sich  also auch bei kleineren Unterschieden eine genaue Untersuchung durchführen zu lassen.